Gestern, der letzte Tag:
Es regnete in Strömen, gestern Vormittag. So blieb uns nichts anderes übrig, als heute in der Halle zu üben. Regen trommelt auf das Dach . So beginnen wir mit einer Klangschalenmeditation, die uns die Sonne, das Meer, Wellen, den Strand visualisieren lassen möchte.
Für mich hat das Stakato, der Rhythmus des aufs Dach trommelnden Regens eine eigene Faszination. Ich spüre, dass da jemand traurig und irritiert ist gerade.
Erst später erfahre ich, warum.
Dennoch verbindet sich diese Wahrnehmung heute mit dem Regen, lässt mich an Tränen denken, die aus den Augen tropfen und deren Ursachen von ganz tief innen kommen. Tränen, die säubern, reinigen und heilen.
Oft in diesen Tagen, nicht nur heute, wenn ich den schwingenden, im Raum sich ausbreitenden Klangschalenschlag höre, denke ich an das Tönen mit der eigenen Stimme in der Chantinggruppe und dem darauf folgendem Nachschwingen des angestimmten Tones im Klangkörper, der ich bin und wie er die Barrieren zu sprengen vermag, um den tiefsitzenden Gefühlen Durchlass zu gewähren, um empor zu steigen und endlich gefühlt werden zu dürfen.
Dennoch, auch wenn ich heute weder Meer noch Sonne visualisieren kann – dafür sitzt mir die Traurigkeit eines anderen Menschen zu sehr im Nacken – entspanne ich mich beim Liegen auf den harten Holzdielen. Gut geerdet kann ich auch mit der Traurigkeit umgehen. Die Füße sind nackt, und freuen sich darauf, nachher auf dem Holzboden zu stampfen und später fast zu fliegen. Aber das weiß ich in diesem Moment noch nicht. Ich bin froh, als die Meditation beendet ist, und ich wieder auf den Füßen stehe. Ein Blick nach hinten gibt mir die Bestätigung , dass da jemand tatsächlich traurig ist, den ich sehr sehr gerne habe, aber auch, dass jetzt nicht der Zeitpunkt gekommen ist, zu fragen, zu benennen, zu sprechen. Wir tauschen Blicke und wissen.
Der „Meister“ gibt heute alles.
In der Schlußsequenz scheint er zu schweben und der ganze Raum schwebt mit: achtsam, leicht wie Federn, die den Boden kaum berühren und doch auch kraftvoll, ohne Anstrengung.
Natürlich komme ich noch nicht mit, denn die meisten üben schon sehr lange Tai Chi. Der Meister schaut nicht auf die Gruppe in dieser letzten Sequenz. Er ist für sich. Seine Bewegungen sind präzise. Er ist bei sich, ganz und gar. Die Konzentration, die von ihm und seinem Tun ausgeht, teilt sich dem Raum und den Menschen hier mit, wird durch das Mitschwingen gesteigert, ja potenziert. Ich empfinde Respekt und große Achtung. Alle sind wir so vertieft, dass wir nicht mitbekommen, was sich über unseren Köpfen draußen abspielt.
Als wir enden, haben wir mit Wolkenhänden den ganzen Himmel freigeschoben. Blau der Himmel, kraftvoll die Sonne, flirrendes Licht. Noch einmal treffen wir uns im Biergarten, um Abschied zu nehmen, von Menschen und Ort, die mit uns Tage reich gefüllt haben. Abgetrocknete Lindenblüten schmücken unser offenes Haar, fallen in Schorle, Bier und Kaffee. Aber es macht uns nichts.
Oft an diesen Tagen in der Rhön denke ich an meine Kindheitsheimat, die ebenfalls eine Mittelgebirgslandschaft ist. Auch auf dem Heimweg später mit meiner Herzensfreundin, denke ich oft daran, wie es wohl wäre mit ihr zusammen mal dort hin zu fahren. Wir verfahren uns, sind plötzlich im Sauerland, auf dem Weg dorthin, woher ich komme. Ich habe nicht darüber gesprochen. Meine Freundin ist eine routinierte Autofahrerin, die diese Strecke gut kennt. Was ist geschehen? Fuhr sie mit dem Auto in die Richtung, in die meine Gedanken spazieren gingen?
Sie ist fassungslos.
Ich habe Mühe, sie zu beschwichtigen, so wütend ist sie auf sich selbst. Erst als ich ihr von meinen reisenden Gedanken erzähle, entspannt sie sich. So erreichen wir unser Ziel eine halbe Stunde später, als gedacht. Es ist fast dunkel.